OT:
They might be Giants
Jahr: USA 1971
R: Anthony Harvey
B: James Goldman
K: Victor J. Kemper
M: John Barry
D: George C. Scott, Joanne Woodward, Jack Gilford, Lester Rawlins
Quelle: DVD (Pidax). Danke fürs Rezi-Exemplar!
Nach dem Tod seines Ehegesponses gleitet der pensionierte Richter Justin Playfair (George C. Scott) in eine Fantasiewelt ab. Fortan wähnt er sich als Sherlock Holmes, inklusive originalgetreuer Klamotten, Pfeife und Deerstalker-Kappe. Im Keller richtet er sich ein Heimlabor ein und geht Indizien imaginärer Fälle nach.
Seine Umwelt reagiert in der Regel amüsiert auf den sympathischen „Spinner“ oder spielt das Spiel sogar mit. Einzig Justins Bruder Blevins (Lester Rawlins) führt Arges im Schilde. Um an das beträchtliche Vermögen Justins zu kommen, will er diesen entmündigen lassen. Steigbügelhalter soll dabei das Institut von Dr. Strauss (Ron Weyand) sein, für das die Psychiaterin Dr. Mildred Watson (Joanne Woodward) arbeitet. Ihre Aufgabe ist es, Justin zu begutachten und den Jagdschein auszustellen.
Aber es kommt anders: Justin erkennt in Dr. Watson seine zukünftige Assistentin. Und diese lässt sich wider besseres Wissen auf Sherlock Holmes und die anstehende Endabrechnung mit seinem Erzfeind Professor Moriarty ein.
Zitate:
Blevins: „Ich bring‘ ihn in eine Anstalt. Sobald er in Gewahrsam ist, werde ich reich sein.“
Justin: „Wenn niemand sich die Dinge anschaut und überlegt, was sie noch sein könnten, säßen wir immer noch im Urwald bei den Affen.“
Peabody (Jack Gilford): „Was ist dagegen einzuwenden, Sherlock Holmes zu sein? Das würde ich gerne wissen.“
Die Kritik des Gunslingers
Ähnlich des späteren „Einer flog übers Kuckucksnest“ spricht sich auch dieser Streifen für Toleranz und Großzügigkeit aus. Gegen eine Gesellschaft, die bloßes Anderssein oft bereits als klinischen Befund wertet oder mit Ausgrenzung bestraft. Hier allerdings deutlich weniger hart beschrieben als im „Kuckucksnest“.
Justins neue Identität, Sherlock Holmes, polarisiert: Die „Normalen“ empfinden ihn aus verschiedenen Gründen als störenden Faktor. Doch vielen anderen gibt „Mr. Holmes“ Lebensmut und Sinn. Da ist zuerst Dr. Watson: brillant, aber etwas verhuscht und altbacken und dadurch ungeküsst. Ein klassischer Workaholic. Sie lässt sich nach schmerzhaft treffender Analyse durch Holmes auf das Abenteuer ein und bricht aus der Tretmühle aus, um mit ihm Jagd auf Moriarty zu machen. Da ist das alte Ehepaar Bagg (Frances Fuller, Worthington Miner), das seit 1939 nicht mehr die Wohnung verlassen hat und autark in einem großen, liebevoll gepflegten Wintergarten lebt. Die Beiden fühlen sich durch Holmes ermutigt, wieder den Schritt nach draußen zu wagen. Oder der Bibliothekar Peabody, der davon träumt, des nachts als schneidiger Degenakrobat „Scarlet Pimpernel“ gegen das Unrecht zu Felde zu ziehen. Dank Holmes lässt er diesen Traum wahr werden. Um hier nur einige zu nennen.
Auch als Zuschauer muss man sich auf den Streifen einlassen, denn die „Hinweise“, denen Holmes und Watson auf der Suche nach Moriarty nachgehen, erscheinen wie eine verrückte Schnitzeljagd. Deren Stationen geben weggeworfene Mülltüten oder elektronische Werbebanner vor, die Holmes zufolge kryptische Hinweise Moriartys enthalten. Und diese wiederum leiten die beiden „Ermittler“ zu weiteren Puzzleteilen, die zu den nächsten abgefahrenen Schlussfolgerungen führen. So ergibt sich gleichzeitig ein bunter Streifzug durch das New York der frühen 1970er-Jahre.
Zwischendurch verliert der Film im Schlussdrittel etwas seine Balance. So wirkt die arg slapstickhafte Konfrontation von Holmes und seinen Getreuen im Supermarkt gegen die von Dr. Strauss kommandierte Ordnungsmacht wie ein Fremdkörper. Der Schuss Konsumkritik hier ist dann fast des Guten zu viel. Am Ende kriegt der Streifen aber wieder die Kurve und verhindert ein Entgleisen vor dem Zielbahnhof.
George C. Scott ist für mich eh über jeden Zweifel erhaben, und zusammen mit der großartigen Joanne Woodward macht er den eigentlichen Charme des Streifens aus. Worthington Miner, der hier als Mr. Bagg einen seiner raren Schauspielerauftritte hatte, gilt als einer DER großen Pioniere des US-Fernsehens. Im wirklichen Leben war er mit Frances Fuller verheiratet, die hier seine Ehefrau spielt.
Rating: $$$$
Splatter: 1/10